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Die Friedensstadt Weißenberg

Text: Konrad Roenne

 

Etwas östlich der Friedensstadt: der Friedhof der Johannischen Kirche – auf der einen Seite ein Feld, auf der anderen: Wald, der direkt an den Friedhof grenzt.

Der Vergleich mit einem Soldatengräberfeld drängt sich auf: Die hier Bestatteten erhalten alle einen kleinen abgeschrägten Quader als Grabstein, mit Namen sowie Geburts- und Todesdatum, mehr nicht; früher waren es Holzkreuze, von denen noch einige stehen. Die Erklärung für diese formale Strenge findet sich gleich am Eingang: »Im Tode sind wir alle gleich« – ein Ausspruch Joseph Weißenbergs, der offensichtlich dafür gesorgt hat, dass hier ästhetische Entgleisungen wie auf anderen Friedhöfen unterlassen werden.

Kirche der Friedensstadt, Waldfrieden: das Gotteshaus der Johannischen Kirche, dessen erster, äußerer Eindruck ein wenig verwirrend, gar skurril ist: der einer gepflegten, eleganten Panzerhalle oder eines Flugzeughangars, in einer schönen Gartenanlage gelegen, mit einer kleinen Figurengruppe davor: Die Tiere besteigen die Arche des Noah, der auf seinem Schiff steht und Jesus verblüffend ähnlich sieht.

Und wer nun außerhalb der Gottesdienste zu dieser eigenartigen Kirche kommt und auch nicht an einer der Führungen durch die Friedensstadt teilnimmt und dann vor dem verschlossenen Gotteshaus steht und versucht, durch die Fenster einen Blick auf das Innere zu erhaschen: dem kann es passieren, dass jemand von der Gemeinde vorbeikommt und dass dann schnell der Schlüssel mit dem Fahrrad geholt wird und es drinnen, unter den beeindruckenden hölzernen Bögen des Kirchenbaus eine kurze Führung gibt: Die Konstruktion gehe auf den »Herrn Weißenberg« zurück, der das Gebäude so konzipiert habe, dass nach jeder Seite hin problemlos Erweiterungen möglich seien – 2000 Menschen soll die Kirchenhalle fassen, und damals, 1925, wuchs die Bewegung des Joseph Weißenberg noch rasant.

Die Friedhofskapelle der Friedensstadt Weißenberg, Foto: Von Bautsch – Eigenes Werk, CC0, via wikimedia commons

Es begann mit einer Gaststätte: Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs prophezeite Joseph Weißenberg eine Inflation: »Alsdann sagte Ich zu Meinen Schwestern und Brüdern: ›Liebe Schwestern und Brüder, bringt Mir euer ganzes Geld, Ich will es euch erhalten. Unser Geld geht auf Null.‹ Sie habens gebracht, und Ich habe 1200 Morgen Land auf einer Stelle gekauft, auf einer anderen 400 Morgen und fing an, eine Siedlung zu bauen.« Die Spenden ermöglichten es Weißenberg, den Gasthof »Waldfrieden« zu erwerben, der heute noch – allerdings in erneuerter Form – auf dem Gelände der Kirche steht und genutzt wird. Damit war ein erster Versammlungsort und Ausgangspunkt für den Aufbau einer »Stadt des Friedens« gegeben. Der größte Teil des erworbenen Landes befand sich an den Glauer Bergen zwischen den Ortschaften Blankensee und Glau, südlich von Berlin, knapp zehn Kilometer von Trebbin entfernt.

1920 erfolgte die Grundsteinlegung des ersten Gebäudes; die notwendigen Rodungen und Vorarbeiten begannen 1921, Grundlage auch hier: Eigeninitiative und Opferbereitschaft der Anhänger Weißenbergs. Als die Inflation dann tatsächlich kam und die Bauarbeiten deswegen 1922 zu stocken begannen, sollen Weißenbergs Anhänger dem »Meister« ihre goldenen Trauringe für den Fortgang des Siedlungsprojekts gebracht haben, sodass etwa der Berliner Lokalanzeiger später schrieb: »Eine Stadt aus Trauringen erbaut!«

Wie konnten so viele Menschen für dieses Projekt mobilisiert werden? Wer war Weißenberg?

Der Journalist Rudolf Olden schrieb 1932 einen sehr kritischen, größtenteils spöttischen Bericht, und trotzdem:

»Und auch hier ist ein Wunder. Ein ungebildeter alter Mann ohne Ideen, ohne Hilfsmittel, ohne Theorie, auch ohne Rednergabe versammelt eine große, sehr große Gemeinde um sich, hält ›Kirchenversammlungen‹ mit vielen hunderten Delegierten ab, Paraden von Tausenden, baut Häuser, erhält Arme, heilt Kranke oder heilt sie nicht, aber lässt sie gewiss glauben, dass er sie heilt. Er glaubt an sich, und die anderen glauben darum an ihn.«

Weißenberg: ein Maurer aus einfachen, ärmlichen Verhältnissen, am 24. August 1855 im schlesischen Dorf Fehebeutel geboren, mit elf Vollwaise; der nach Berlin zieht und sich im Winter mit diversen anderen Berufen durchs Leben schlägt: als Droschkenkutscher, Zapfer, Kellner, Hausdiener, Straßenhändler – und als Heiler. Angeblich hat er schon im Alter von vier Jahren einen Schwerkranken mittels Handauflegen gesund gemacht und »Geistfreunde« (Geister) durch andere Kinder sprechen lassen. Und so entschließt er sich 1903, hauptberuflich als sogenannter Heilmagnetiseur zu arbeiten, und verbindet dies mit einer Art angewandtem Christentum: »Damals erschien mir der Heiland […] und eine Stimme sagte zu mir, ich sollte die irdische Arbeit niederlegen.« Seine Wohnung und Praxis befindet sich in der Gleimstraße 42 im Prenzlauer Berg. Seine Kraft, den »göttlichen Od oder Magnetismus«, überträgt er auf die Patienten und Heilsuchenden: durch Handauflegen, Anpusten, Körperbestreichen und Gesundbeten. Er beruft sich dabei auf Markus 16,18: »auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird’s besser mit ihnen werden«. Zusätzlich verschreibt er Gebete (zwei Vaterunser täglich), Tees oder das Auflegen von Weißkäse. Zwar wird gegen ihn immer wieder prozessiert, doch seine Anhängerschaft wächst. 1907 gründet er die »Christliche Vereinigung ernster Forscher von Diesseits nach Jenseits, wahrer Anhänger der christlichen Kirchen«. 1910 tritt er aus der katholischen Kirche aus und zum evangelischen Glauben über. Nach diversen Verbotsverfahren gegen Weißenberg und seine Vereinigung erfolgt 1918 die Rehabilitierung. Sieben Jahre später zählt die Gemeinschaft bereits rund 120.000 Anhänger, vor allem im damaligen Mittel- und Ostdeutschland: Die Sehnsucht nach einer charismatischen Alternative zu den Landeskirchen scheint groß, während der Versammlungen fallen die Menschen in Trance, Geistwesen sprechen durch Weißenberg oder andere Anwesende (oft auch Geister von Berühmtheiten wie Bismarck oder Luther), und selbst die Bibelstunden der Weißenbergianer innerhalb der evangelischen Kirche erfreuen sich großer Beliebtheit.

1926 kommt es zum Bruch mit der Kirche, Weißenberg und seine Anhänger treten geschlossen aus: die »zweite Reformation« beginnt, und die »Evangelisch-Johannische Kirche nach der Offenbarung St. Johannis« wird gegründet. Die Friedensstadt und die »Urkirche Waldfrieden« stellen dabei so etwas wie das spirituelle Zentrum dar. Zu Pfingsten und am Geburtstag Weißenbergs versammeln sich zu jener Zeit bis zu 20.000 Gläubige. Im Sommer 1932 zieht der »Meister« endgültig in die Friedensstadt, die damals als eines der größten und modernsten privaten Siedlungsprojekte gilt: 500 Bewohner, 40 Gebäude: Wohnhäuser, ein sogenanntes Heilinstitut, ein Altersheim, ein Wasserwerk, ein Museum, eine Wäscherei, eine Schule im modernistischen Bauhausstil, ein riesiges Restaurant und diverse landwirtschaftliche Einrichtungen. Das in der Offenbarung des Johannes (21,1–4) verheißene »neue Jerusalem« – und das im »nüchternsten Teil des nüchternen Deutschland« (Olden)?

Heute zählt die Johannische Kirche deutschlandweit noch rund 3000 Mitglieder. Der Dämon der Geschichte suchte auch die Glaubensgemeinschaft und die Friedensstadt heim: Nach kurzem Arrangement und Annäherung an den Nationalsozialismus griffen die neuen Machthaber gegen Weißenberg und seine Kirche hart durch, Anfang 1935 erfolgte das Verbot der Bewegung, das Vermögen zog man entschädigungslos ein. Weißenberg und einige Mitarbeiter wurden von der Gestapo verhaftet, der »Meister« schließlich wegen angeblicher staatsfeindlicher Betätigung und Sittlichkeitsverbrechen verurteilt. Nach Verbüßung der Haftstrafen stellte man ihn in Schlesien unter Hausarrest, wo er am 6. März 1941 in der Nähe von Breslau starb. Das Genossenschaftsprojekt Friedensstadt wurde zwangsliquidiert und ging in den Besitz des Deutschen Reiches über. Ende 1938 übernahm die SS das Gelände (später als Außenstelle Glau des Konzentrationslagers Sachsenhausen), die Bewohner wurden nach und nach vertrieben. Mit Kriegsende kam es zur Besetzung der Friedensstadt durch die Rote Armee, die bis zum Abzug der Truppen andauerte. Am 14. Juni 1994 wurde die Friedensstadt der Johannischen Kirche übergeben, der Wiederaufbau begann.

Heilinstitut der Friedensstadt Weißenberg
Das Heilinstitut der Friedensstadt Weißenberg, Foto: Foto: Von Dr. Gunnar Pommerening – selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0, via wikimedia commons

Vieles ist wieder instand gesetzt: das Heilinstitut, in dem neben Arztpraxen auch das Heilen durch Handauflegen angeboten wird; das Frieda-Müller-Haus, das nach Weißenbergs Tochter benannte, vom Johannischen Sozialwerk betriebene Altersheim; die Siedlung Lindenhof, die 1927 als erster Teil des Siedlungsprojekts fertiggestellt wurde und an deren Ende die Gedenkstätte für Weißenberg den Charme eines sowjetischen Ehrenmals verströmt.

Etwas Überspanntes, Eiferndes sucht man im »neuen Jerusalem«, in der »Stadt des Friedens« vergeblich: Im Reformhaus wird zu Mittag gegessen, jemand steuert seinen elektrischen Rollstuhl die Bismarckstraße entlang, ab und an zerschneidet Arbeitslärm die Stille, die Post wird gebracht, der Biergarten unter Linden kündet von den Freuden des Diesseits. Hier herrscht die Gediegenheit einer Kleinstadt samt ländlicher Ruhe, und es gibt ein Besucherleitsystem mit Infoschildern durch die gesamte Friedensstadt.

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